
Ein unscheinbarer Nachmittag, ein kurzer Einkauf – und doch wird daraus eine Begegnung, die niemand so schnell vergisst.
Der Lagerraum des Drogeriemarkts roch nach Karton und Reinigungsmitteln. Zwischen den Stapeln stand ein einsamer Einkaufswagen. Darin der letzte, noch volle Wasserkanister für den Spender im Verkaufsraum – zwanzig Kilo schwer, das durchsichtige Plastik schimmerte bläulich im Neonlicht.
Sophie stand daneben. Gerade neunzehn, die Finger nestelten nervös am Kittel. Sie war Azubine, erst seit wenigen Monaten dabei, voller Ehrgeiz und dem Wunsch, nicht schwach zu wirken. Ihr Blick glitt immer wieder zu Tom.
Tom, Mitte zwanzig, der stellvertretende Filialleiter. Gegeltes Haar, verschränkte Arme, ein selbstsicheres Lächeln. Für die jüngeren Mädchen im Laden war er ein kleiner Star – Geschichten über seine Eroberungen machten die Runde. Sophie hatte sie alle gehört, aber sie wollte sie nicht glauben. Für sie war Tom charmant, souverän, stark.
Tom deutete mit dem Kinn auf den Kanister. „Also, Kleine. Den stellst du gleich vorne auf den Spender. Routine. Das kriegst du schon hin.“
Sophie nickte hastig, obwohl sie wusste, wie schwer das Ding war. „Okay,“ flüsterte sie.
„Na siehst du,“ grinste Tom. „So geht das.“
Mit zittrigen Fingern schob Sophie den Wagen hinaus in den Verkaufsraum. Tom folgte, Hände tief in den Taschen, als wäre er der Regisseur dieses Auftritts.
Es war kurz nach halb zehn. Einige Schüler der nahen Gesamtschule stromerten durch die Gänge, tuschelten, kicherten, hielten sich in der Nähe auf. Ein paar ältere Kunden zogen ihre Wagen bedächtig, Radiomusik dudelte leise im Hintergrund.
Am Wasserspender blieb Sophie stehen. Unsicher, die Hände am Griff des Wagens. Tom bemerkte sofort die Schülerinnen, die verstohlen hinter einem Regal standen, kichernd zu ihm herübersahen. Ihr Gekicher blähte sein Ego auf. Er richtete sich auf, Brust raus, ein Grinsen auf den Lippen.
Genau da schob eine junge Mutter ihren Wagen in den Gang. Vorne im Wagen ruhte ein Maxi Cosi mit einem friedlich schlafenden Baby. Sie sah sich suchend um und sprach Tom direkt an.
„Entschuldigen Sie, wo finde ich die Babymilch aus der Werbung?“
Tom drehte sich sofort zu ihr, seine Stimme wurde geschmeidig. „Die Babymilch? Natürlich. Gerade für junge Mütter gibt es hier die besten Produkte – man muss nur wissen, wo man schaut.“
Die Schülerinnen kicherten lauter. Sophie sah verlegen weg.
Die Frau jedoch blieb kühl. „Danke. Ich möchte nur die Milch.“
Tom legte nach, senkte die Stimme, zwinkerte. „Vielleicht kann ich Ihnen auch privat helfen… bei einer Tasse Kaffee?“
Ihr Lächeln erstarb. „Nein, danke. Ich habe keine Zeit für Spielchen.“
Ein Raunen ging durch die Schüler. Zum ersten Mal wirkte Toms Grinsen angestrengt. Er drehte sich abrupt zu Sophie.
„Und du?“ schnauzte er. „Warum stehst du hier nur rum? Dein Job ist es, den Kanister endlich aufzustellen!“
Sophie fuhr zusammen. Ihre Augen glänzten, sie wollte nicht weinen, doch die Tränen drängten.
Sie packte den Kanister, stemmte ihn mit aller Kraft hoch. Für einen Moment hielt die Menge den Atem an – tatsächlich hob sie ihn aus dem Wagen. Angst und Adrenalin machten es möglich.
Doch dann sah Sophie die Blicke. Die tuschelnden Schülerinnen, die neugierigen Kunden, die gespannte Stille. Ihre Arme verloren jede Kraft. Der Kanister rutschte und krachte krachend auf den Boden.
Sophie brach daneben zusammen, die Hände vors Gesicht, weinend.
„Unfassbar! Du bist ja eine komplette Versagerin!“ brüllte Tom.
Einige Kunden blieben stehen, eine ältere Dame schüttelte ungläubig den Kopf. Die Schülerinnen, eben noch kichernd, sahen sich gegenseitig an, unsicher, fast erschrocken. In diesem Moment zerfiel Toms Aura – der selbstsichere Playboy wirkte nur noch wie ein herrischer Schreihals.
Tom stapfte zum Kanister, packte ihn. Bisher hatte er diese Arbeit immer anderen überlassen, selbst wusste er nicht, wie schwer das Ding war. Mit einem Ruck hob er ihn hoch. Das Plastik knackte, Wasser schwappte, sein Gesicht lief rot an. Mit Mühe brachte er den Kanister bis auf Hüfthöhe – weiter nicht. Seine Arme zitterten, Schweiß tropfte, die Adern an seinem Hals traten hervor. Aber er kam nicht weiter.
„Entschuldigen Sie,“ sagte da eine ruhige Stimme. Die junge Mutter war nähergetreten. Mit einer beiläufigen Bewegung griff sie zu, nahm Tom den Kanister ab und hielt ihn sicher an der Seite.
„So schwer ist er nicht,“ meinte sie sachlich. Dann wandte sie sich Sophie zu: „Hilfst du mir? Dann stellen wir ihn zusammen auf.“
Sophie blinzelte, wischte sich hastig die Tränen fort. Zögernd packte sie mit an. Die Mutter nickte
hr zu – fest, aber freundlich. „Du führst, ich halte gegen.“
Gemeinsam hoben sie den Kanister hoch. Sophie spürte die Kraft der Frau an ihrer Seite, das Gewicht verteilte sich, und sie selbst gewann Halt. In einer fließenden Bewegung rastete der Kanister ein. Ein dumpfes Gluckern, fertig.
Leises Klatschen, ein paar Rufe: „Bravo!“ Die Schülerinnen grinsten, diesmal nicht über Sophie, sondern mit ihr. Tom stand daneben, Hände leer, Blick leer. Ein paar Kunden schüttelten die Köpfe. Sein Grinsen war verschwunden.
Die Mutter strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah ihn kühl an: „Respekt wiegt weniger als Wasser. Aber Sie haben keins von beidem getragen.“
Sophie stand noch neben ihr, immer noch atemlos. Sie sah zur Mutter hoch: „Danke.“ Die Frau lächelte sie kurz an. „Danke brauchst du mir nicht sagen. Du hast den größten Teil selbst geschafft.“
Tom wich einen Schritt zurück. Und zum ersten Mal wirkte er im eigenen Laden klein.